DAS WERK OTTO MÜLLERS – 

KOMPLEXE LEBENSLANDSCHAFTEN ZWISCHEN REALITÄT UND IMAGINATION

»Zwischen Realität und Imagination« – so lautete der Titel der Werkschau Otto Müllers, die anlässlich seines sechzigsten Geburtstags im Frühjahr im Stadtturm von Vilshofen vom dortigen Kunstverein mit über fünfzig Werken – Zeichnungen, Malerei und Radierung – ausgerichtet wurde. Der Titel war mit Bedacht vom Künstler gewählt und führt in der Gegenüberstellung des Begriffspaars unmittelbar in das Zentrum der Bildfindungen Müllers: »Es entsteht etwas Neues, das seinen Ursprung in der Realität hat. Meine Bilder illustrieren und beschreiben nicht so sehr die Natur, sondern sind selbst Natur.« Allen Versuchen der Betrachterinnen und Betrachter, gegenständliche Motive der Wiedererkennbarkeit zu entdecken, widersetzen sich die Bilder immer wieder. Seine Arbeiten sind gestaltet oder, so der gelernte Architekt, »gebaut« aus Linien, Formen und Farben, die allenfalls Assoziationen von Figuren, von Physiognomischem oder Landschaftlichem aufblitzen lassen. 

Bei der Betrachtung der Ausstellungen Müllers wie auch bei einem Atelierbesuch kommt man der Arbeitsweise seiner »gebauten Bilder« nahe. Im ehemaligen Schulhaus von Safferstetten bei Bad Füssing hängen im lichtdurchfluteten Erdgeschoss gleich beim Betreten auf der einen Wandseite die kargen Schwarz-Weiß-Zeichnungen des Künstlers. Kohle, Oilstick, Bleistift, gelegentlich vorsichtige Eitempera auf Bütten. Sie sind entstanden in eher rascher Folge, Motivserien, die um Lösungen kreisen. Ein vorsichtiges Suchen und Herantasten an eine Form und deren Variieren. Wie in einem Versuchslabor oder auf der Pinwand im Tatortkrimi schauen sie einen fordernd an: Siehst du meine Zusammenhänge? Erkennst du meinen Ursprung? Zeichne die Spur der Hand des Künstlers nach! Da ein schneller Strich, dort eine bewusst geführte Setzung. Lässt man den Blick weiter durch das Atelier schweifen, wird man eingenommen von den Farbwelten der großformatigen Ölbilder. Unverkennbar die Handschrift Otto Müllers, die Verwandtschaft der Bilder mit seinen Zeichnungen, aus deren »Formenkanon« er seine Ideen schöpft, wie Müller in einem Interview seinen oft lange dauernden Arbeitsprozess beschreibt. In der Ausfaltung und Differenzierung des selbstdefinierten Vokabulars kann es Monate, manchmal Jahre dauern, bis ein Ölbild fertiggestellt ist: »Man muss geduldig sein, dann findet sich eine Lösung.« Mehr noch als bei den Zeichnungen muss der Betrachtende in die Tiefe gehen, geduldig schauen, nicht interpretieren, um die Schichten der übermalend entwickelten Wirklichkeiten des Werks zu enthüllen. Muss wie der Maler selbst Verbindungen neugierig beobachten, Veränderungen registrieren, Brüche akzeptieren. Die Formen bleiben sich gleich, aber der malerische Vollzug ist im Reichtum der Nuancen und Farbzustände, in der Differenzierung des Auftrags immer wieder anders, neu und niemals eindimensional: Jede Erscheinung ist hierbei Teil eines Ganzen. Nicht in mimetischen Abbildern, sondern in Urbildern der Natur (wie Himmel, Erde, Wasser, Berg, Tal, Erde, Baum, Kopf, Oben, Unten), die nach Platon jeder Mensch in seiner Seele trägt und die sein Handeln bestimmen, erscheinen Werden und Vergehen, Leben und Tod, zeigt sich das ewige Ganze. Auf der Suche nach der »Gesetzmäßigkeit des Ganzen« konzentriert der Künstler seine Arbeiten als Halt- und Wendepunkte – Bewusstwerdung durch Sehen. Kennzeichen seiner Malerei und Zeichnung ist die Intensität, die sich alles Überflüssige, Beiläufige, alles Anekdotenhafte versagt. Eine »›pure Art‹ des Zeichnens und Malens«, wie Otto Müller dies beschreibt und wofür er 2011 mit dem Kunstpreis des Landkreises Passau ausgezeichnet wurde. Sein Werk ist mit den Jahren – seit 1998 arbeitet Müller ausschließlich als bildender Künstler – in Farbe und Form immer dichter, immer eindringlicher geworden, komplex wie die Wirklichkeit: Lebenslandschaften. 

Petra Renkel

Otto Müller, 1958 geboren in Passau, 1980–1985 Studium der Architektur an der Technischen Universität München, 1985–1998 als Architekt in verschiedenen Büros tätig, 1991 Sommerakademie am Bauhaus in Dessau, seit 1998 freischaffend tätig als Zeichner und Maler, 1995–2007 Schwäbischer Kunstsommer der Universität Augsburg »Kunst leben« in Irsee bei Prof. Klaus Vogelgesang, Prof. Rudolf Schoofs, Prof. Siegfried Kaden (in Zusammenarbeit mit Klaus Teltschik), Peter Casagrande, Prof. Johannes Hewel und Sati Zech, seit 2009 aktives Mitglied Produzentengalerie Passau

Auszeichnung: 2011 Kulturpreis des Landkreises Passau

Ausstellungen (Auswahl): 2018 »Zwischen Realität und Imagination«, Kunstverein Vilshofen, Stadtgalerie – 2016/17 Produzentengalerie Passau – 2015 Galerie Marianska Budweis (CZ) – 2014 Galerie Frei-Raum, Thomas Weber, Schärding (AT) – 2013 Kunstverein Passau (mit Franziska Lankes, Skulptur) – in Planung 2019 Kunstverein Passau (mit Michael Lauss)

Beteiligungen (Auswahl): 2016 »Experimentielle 19«, Schloß Randegg Bodensee, Galerie Titus Koch – 2015 Museum Moderner Kunst Wörlen Passau (mit Produzenten) – 2014 Kunstpavillon München (mit Produzenten) – 2013 Görlitz (mit Produzenten) – Sobeslav (CZ)

Öffentliche Ankäufe: Bayerische Staatsgemäldesammlungen (2001 und 2003) – Landkreis Passau – Sammlung Brandhorst – Museum Moderner Kunst Wörlen Passau – Stadt Passau – Stadt Pfarrkirchen – Neue Sammlung, Oberhausmuseum Passau – Gemeinde Bad Füssing

Kontakt: Otto Müller, om-kunst@t-online.de, www.Mueller-Otto.de

1 Alle Zitate im Text entstammen Gesprächen, Briefen und Notizen des Künstlers sowie einem Interview (http://www.mueller-otto.de/media.html; Zugriff 18.09.2018).

VERNISSAGEREDE AUSSTELLUNG  ECCE HOMO 23.2.2023 SPEKTRUM KIRCHE 

Otto Müller: Der Mensch, gestern, heute, morgen

Stefan Rammer 23. Februar 2023, Spectrum Kirche

 

Ecce homo

 „Sehet, welch ein Mensch.“ (Lutherbibel)

 „Seht, da ist der Mensch!“ (Einheitsübersetzung 1980)

 „Seht, der Mensch!“ (Einheitsübersetzung 2016)

 „Hier ist er, der Mensch!“ (Neues Leben)

„Seht ihn euch an, diesen Menschen!“ (Hoffnung für alle)

 „Da, seht ihn euch an, den Menschen!

 

Mit Ecce homo stellte nach der Darstellung des Johannesevangeliums der römische Statthalter Pontius Pilatus dem Volk den gefolterten, in purpurnes Gewand gekleideten und mit einer Dornenkrone gekrönten Gefangenen Jesus von Nazareth vor, weil er keinen Grund für dessen Verurteilung sah. Die jüdische Führung forderte daraufhin Jesu Kreuzigung (Joh 19,4–6 EU). Wir wissen, was geschah, und wir begeben uns heute hinein in das Geschehen.

 

Nun dieses Müllersche Ecce homo. Bevor ich dazu komme, möchte ich ein wenig ausholen. Den ersten Kontakt mit Otto Müller hatte ich vor gut 30 Jahren. Meine Frau und ich haben eine Ausstellung der Gruppe Kaleidoskop in der Heininger Hans-Carossa-Schule besucht. Dort ist uns ein Aquarell ins Auge gefallen. Es wurde das erste Bild, das wir von eigenem Geld gekauft haben. Es hängt nach wie vor an einer Wand in unserem Haus, umgeben von den Arbeiten vieler anderer Künstler, die im Lauf der Jahre unser Haus zu einer kleinen Galerie gemacht haben. Das Bild zeigt auf abstrahierte Art und Weise das Schärdinger Wassertor, ein Bauwerk, das wir oft und gern durchschreiten, dabei immer unser eigenes Wassertor daheim mitdenken. Natürlich habe ich in all den Jahren verfolgt, wie aus dem damals noch als Architekt wirkenden Otto Müller ab 1998 der freischaffende Künstler, das Mitgestalter der Produzentengalerie wurde, der aus jeglicher dem Architekt vorgegebenen Strenge und Enge mehr und mehr ausgebrochen ist. Was ihm aber davon geblieben ist. Es geht um „gebaute“ Bilder. Und es geht immer noch um das Licht. Der Architekt baut die Hülle, das Licht aber bringt sie erst zur Geltung. Das gilt auch für den Künstler. Wobei wir schon wieder bei der Bibel wären, beim Schöpfungsbericht. Der erste Akt war die Schaffung des Lichts. Und das leuchtet aus all der meist großflächigen, abstrakten Malerei von Otto Müller heraus. Hier wird der Künstler selbst zum Schöpfer, zum Kreator. Das Licht bringt die Farben, bringt die Formen und Linien zur Geltung, zur Anschauung. Raumhaltigkeit ist das Ziel. Der Künstler hält den Raum vor, der Betrachter füllt ihn. Er füllt ihn, indem er die vorgefundenen Flächen und Farben zu seinem, zu des Betrachters Bild, zusammenfügt. Bildfindungen nennt Otto Müller seine Arbeit. Bilder finden ist auch die Aufgabe des Betrachters. Letzterer muss sich auf dieses Spiel einlassen. Kann er das, wird er reich belohnt. Dass seine abstrakten Formen und Flächen nur eine kleine „Verrückung“ brauchen, um ins Gegenständliche zu kippen bzw. das Gegenständliche herauszulocken, sieht man eindrucksvoll an den Kruzifix-Bildern. Das Kreuz kommt aus der Fläche, erweitert sich zur Figur. Der Gekreuzigte und das Kreuz überlappen sich, werden eins, treten auseinander heraus, ganz nah an uns heran. Ganz egal, ob  filigran mit haardünnen Strichen hingehaucht oder aufgetragen mit üppigem Andruck.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich war dann doch sehr überrascht, als ich vor kurzem Otto Müller in seinem lichtdurchfluteten Atelier, das einst ein Klassenzimmer der Saffenstettener Grundschule war, besucht habe. Gleich ins Auge gefallen ist mir ein Bild, das er mir als Sterbebild für den Vater vorstellt. Es führt hin zu den Bildern, die er mir dann zeigt.  Ich habe nicht erwartet, was ich vorgefunden habe, was er mir Blatt für Blatt aufgedeckt hat. Der Zeichner, der Graphiker, der Radierer Müller, war für mich relatives Neuland. Aber was ich gesehen habe, hat mich sofort in Beschlag genommen, hat mich im wahrsten Sinn des Wortes gefesselt, hat mich tief angerührt und berührt, ja angefasst. Ich denke, Ihnen wird es heute nicht anders ergehen. Das Projekt Kirchgessner, so nenne ich es jetzt mal, zeigt, so glaube ich, nicht nur für mich, nein, weniger einen neuen, vielmehr  einen anderen Otto Müller. Anlässlich einer Ausstellung zu seinem 60. Geburtstag 2018 im Vilshofener Stadtturm hat Otto Müller auch Beispiele seiner Sakralkunst gezeigt. Und hat damit wohl auch unseren verehrten Gastgeber Monsignore Dr. Bernhard Kirchgessner gepackt, der ja empfänglich ist für jegliche ansprechende, hohe Qualität aufweisende Kunst, nicht nur, aber schon auch wenn es um sakrale Kunst geht. Es verwundert mich nicht, dass der Kunstkenner und -sammler bei Otto Müller anfragte, ob er derlei Arbeiten nicht für eine Ausstellung in Spectrum Kirche machen wolle. Das war der Ausgangspunkt dessen, was wir heute sehen. Die Arbeiten sind zumeist für diese Ausstellung zur Fastenzeit entstanden. Der Titel der Vilshofener Ausstellung „Zwischen Realität und Imagination“ ist aber wichtig auch für unsere Ausstellung hier.

Das sakrale Feld, das hat er zeitlebens beackert. Er hat sein ganzes bisheriges Leben rund um den Altar gearbeitet. Als Ministrant, als Lektor, als Organist, als Kassier bei der Caritas und er ist mit einer Theologin verheiratet. Kirchlicher kann man also gar nicht sozialisiert sein als er. Und die Erziehung im Fürstenzeller Maristengymnasium und das Aufwachsen in Domstadt Passau mögen da auch noch das ihre beigetragen haben. Nun, er hat sich jedenfalls nicht von seinem Glauben, seiner Spiritualität, entfernt. Im Gegenteil.

Wie kann ich diese Bilder fassen? Angesichts des Nachdenkens über die Kreuzwegbilder ist mir ein Gedicht von Hilde Domin in den Sinn gekommen:

Hilde Domin: Ecce homo
Weniger als die Hoffnung auf ihn
das ist der Mensch
einarmig
immer
Nur der Gekreuzigte
beide Arme
weit offen
der Hier-Bin-Ich

 

Der Versuch einer Interpretation dieser Verse und auch der heute zu sehenden Radierungen könnte so gehen:

Der Mensch, was ist er? fragt Hilde Domin? Ihre Antwort: „Weniger als die Hoffnung auf ihn“. Eingedenk all der Großtaten des Menschen, einst, vor allem aber auch jetzt in der Gegenwart: So ist es wohl: Der Mensch ist immer enttäuschend. Immer wieder enttäuscht er sein Gegenüber, seinen Nächsten und enttäuscht er sich selbst. Enttäuschend, die Menschheit, das Große, und mein Gegenüber auch, Du und Ich. Die Hoffnung, von der die Dichterin spricht: Auch sie ist trügerisch, auch sie täuscht: Der Mensch bleibt unvollständig, irrend, fehlend. „einarmig“. Immer. Trotz aller guten Vorsätze und Ideen. Trotz des guten Willens und auch des guten Gelingens; trotz der alltäglichen und vielversprechenden Ausnahmen, der leuchtenden Beispiele, die es freilich gibt. Der Mensch bleibt doch einarmig, immer, zwei Herzen in der Brust; immer auf der Suche. Verkrümmt in sich. Unfähig etwas ganz zu tun. Der Mensch, wie ein uneingelöstes Versprechen. Wie ein abgebrochener Versuch.

„Nur der Gekreuzigte“ sagt die Dichterin: er hat „beide Arme weit offen“. Nur er, der am Kreuz hängt, verletzt, gequält, sterbend, aber mit zwei ausgebreiteten und geweiteten Armen. Nur er in seinem Leid und seiner Liebe ist ganz und heil. Ein ganzer Mensch. Ein wahrer Mensch. Im Sterben so, wie er im Leben war: Ganz da. Ganz klar. Ganz dem Nächsten zugewandt. Wehrlos und offen zugleich. „Beide Arme weit offen“.

Er ist der „Hier-Bin-Ich“. So hat sich einst Gott dem Mose im brennenden Dornbusch zu erkennen gegeben. Gott ist der „Hier-Bin-Ich“, der „Ich-Bin-Da“ unseres Lebens: immer wieder gegenwärtig, sich zeigend und erweisend auf dem Weg. An unserer Seite. Auf unserer Seite. Und Christus? Ist eben darin Gottes Sohn. Indem er auch im Leid nicht von uns weicht. Uns nicht lässt. Beide Arme weit offen: einladend, auffangend, umarmend. Ecce homo: Seht, welch ein Mensch.

Das ist der Mensch: Die Hoffnung, die in uns aufgehoben ist, dass wir Einarmigen uns öffnen können und mögen. Unsere Seelen, unsere Herzen, unsere Körper. Beide Arme. Damit wir miteinander ganz werden.

Und nun die so eindrucksstarken Radierungen. Ich schwanke hin und her, ob mir die farbigen oder die schwarzweißen besser gefallen. Schaue ich die farbigen an, sind es die farbigen, schaue ich die schwarzweißen an, sind es diese. Schwarzweiß ist knallhart, direkt. Farbe kann beschönigen, weichzeichnen. Dieser Gefahr obliegt Otto Müller nicht.

Farbradierungen, bei der von zwei oder drei Platten gedruckt wird, sind eine besondere Herausforderung, aber sie erweitern die bildnerischen Möglichkeiten und Ausdrucksformen: Während bei der Schwarzweiß-Radierung allein die Linie im Vordergrund steht, erlaubt die Farbradierung ein interessantes Spiel von Linienzeichnung und Fläche. Die Zeichnung dient nun vorwiegend als Kontur oder Akzentuierung der Farbfläche, die Radierung erhält dadurch vielfach eine fast „malerische“ Erscheinung. Der Experimentierfreude von Künstler und Drucker sind dabei keine Grenzen gesetzt. Otto Müllers Farben beim Radieren sind weniger grell als bei den Ölbildern. Es dominieren Gelb-, Grün- und Blautöne und Rot. Aber sie kontrastieren, sie betonen, sie tragen lilafarben Schmerz und Leid des Gekreuzigten weiter.

Vor etlichen Jahren gab es eine Ausstellung mit dem Titel  „Du sollst Dir kein Bild machen“. Damals sagte Otto Müller (wie ich einem PNP-Artikel entnommen habe): „Wir können niemals alles erklären oder abbilden, alles wissen und abschließen. Nur als Suchende und Fragende, stets auf`s neue Hinschauende bleiben wir lebendig.“ Die zutiefst eigene Haltung von Künstlern aller Kulturepochen sei es, so Müller, in ihren Bildern nicht etwas abzubilden oder darzustellen, sondern zu suchen, zu erahnen sich anzunähern. Die Bilder selbst und die Wirklichkeit lehren sie, dass sie ihrer nicht habhaft werden und  bemächtigen können.  Nun aber macht er sich ein Bild. Nun zeigt er eine Ausstellung mit sehr gegenständlichen Abbildungen. Führt nah ran, gibt sich als Beobachter, als Zeitzeuge. Bei aller Gegenständlichkeit aber konzentriert sich der Künstler auf das Wesentliche, nicht die einzelne Physiognomie, die detailreiche Abbildung der Umgebung, ist im Vordergrund. Das dahinterliegende Geschehen, das allein durch Andeutungen Greifbare formt sich zu einer Erzählung. Die Geographie und Szenerie dazu haben wir im Kopf. Das Nicht-Erkennbare bzw. das nicht gleich Erkennbare ist für ihn nicht minder bedeutend. Zum besseren Verständnis bemühe ich, was er früher einmal selbst gesagt hat: „Meine Bilder verstehe ich wie ein biblisches Gleichnis. Sie zeigen Eigenschaften von Landschaften, ohne diese konkret abbilden zu wollen. Es geht mir um den inneren Gehalt, den Charakter der Dinge, der sich in der Reduktion und Abstraktion in seiner Wesenhaftigkeit zeigt.“ Was ist der innere Gehalt?  Der Kreuzweg zeigt die Leidensgeschichte Jesu.

„Die Leidensgeschichte“, so sagt der Künstler, „ist eines der stärksten Motive religiöser Spiritualität. In ihr verbinden sich tiefe menschliche Not mit Erlösung und Gehaltensein. Im Leidensweg Jesu findet sich zugleich jegliches Leid in der Welt wieder.“

Heute scheinen wir in einer Welt der Abschaffung des Menschen zu leben. Unser gesellschaftliches Leben scheint aus den Fugen. Fortschrittliche Fliehkräfte zerlegen, was uns vertraut ist. Heute Abend laufen uns die Bilder nicht davon. Kein Troll zieht uns in die Untiefen des Digitalen.  Otto Müller führt zurück in eine Welt der Erschaffung des Menschen aus dem Leid. Gegen unfrohe Ideologien und Weltuntergangsgesänge hilft die Rückbesinnung auf den Menschen schlechthin. Otto Müller wirft sich und uns zurück auf den Kern unseres Glaubens. Er, der jeden Tag als Geschenk betrachtet, der konsequent dem schöpferischen Impetus folgt, der das Eigene finden will, schenkt uns eine tief betroffen, nachdenklich machende Bilderserie.

Die Stationen sind wohl erkennbar, doch löst sie der Künstler aus dem „historischen“ Kontext. Zum Erzählerischen aber, das ein fortlaufendes Geschehen schildert, kommen Zeichen, die für einzelne Aspekte des Leidens stehen – des Leidens Christi, aber zugleich des Leidens überhaupt, dem die Menschen ausgesetzt sind, und das sie sich meist gegenseitig zufügen. So gibt es in diesen Blättern immer wieder Menschen unserer Zeit, Soldaten, Leute von der Straße, Menschen ganz verschiedener Rassen und Herkunft. Und oft
signalisieren Pfeile, Spitzen und aggressive Zackenlinien den Schmerz, den auch Krankheit verursachen kann. Das Kreuz als Ort des Todes und des Sieges über den Tod. Auch das Bild der Radierung kann nur entstehen kann, wenn das Metall verletzt wird, wenn ihm „Leid“ zugefügt wird. Das eine bedingt das andere.

In einem alten Zeitungsartikel habe ich gelesen, dass für Otto ein Baum ein „Gleichnis unseres Lebens“, ist. Denn seinen schönen Seiten stehen die weniger schönen gegenüber: Brüche, Verletzungen. Ein freistehender Baum auf einem Hügel etwa kann sich in seiner ganzen Pracht entfalten, muss aber auch manchen Naturgewalten trotzen. Vitalität einerseits und Endlichkeit andererseits drücke ein Baum aus. Und dies möchte der Künstler mit seinen Bildern dem Betrachter zurückgeben.

„Sie suchen und fragen nach der Welt und ihrer Gestalt, nach dem, was wir sehen und dem, was hinter den Dingen steckt.“

Van Gogh: Ich kenne noch keine bessere Definition von Kunst als diese: Die Kunst, das ist der Mensch hinzugefügt zur Natur, die er entbindet, die Wirklichkeit, die Wahrheit und doch mit einer Bedeutsamkeit, die der Künstler darin zum Ausdruck bringt.